Ein Forschungsbericht zeigt, dass LGBT-Personen in der Schweiz gesundheitlich benachteiligt sind, insbesondere in Bezug auf die psychische und sexuelle Gesundheit sowie den Konsum von Substanzen. Das folgende Interview wurde mit Prof. Dr. Andreas Pfister geführt, der die Studie "Gesundheit von LGBT-Personen in der Schweiz" geleitet hat.

Barbara Läuchli (sie/ihr), Autor:in von Barbara Läuchli (sie/ihr) | 16.03.2023

1. Was ist bezüglich der Studie ganz allgemein Ihr grösstes Fazit?

Es bestehen in vielen Bereichen gesundheitliche Ungleichheiten zwischen LGBT-Personen und der übrigen Schweizer Bevölkerung, am stärksten im Bereich der psychischen Gesundheit.

2. Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten drei Punkte bezüglich lesbischen, queeren Frauen?

Eine Gewichtung ist schwierig vorzunehmen. Wie bei schwulen und bisexuellen Männern, trans und non-binären Personen, sehen wir auch bei den lesbischen und bisexuellen Frauen gesundheitliche Belastungen im Bereich psychische Gesundheit (z. B. Suizidversuche). Weiter fällt auf, dass lesbische und bisexuelle Frauen im Vergleich zu heterosexuellen Frauen sowohl häufiger chronisch als auch episodisch (bei einer Gelegenheit) zu viel Alkohol konsumieren. Und sicherlich, betrachtet man auch die wenigen vorhandenen internationalen Studien und Studien in der Westschweiz, ist die Versorgungssituation im gynäkologischen Bereich, zur Prävention sexuell übertragbarer Krankheiten und in der reproduktiven Gesundheit noch immer vorwiegend auf heterosexuelle und cis Frauen ausgerichtet. Hier können die Gesundheits- und Versorgungssysteme sicher noch Fortschritte machen.

3. Wie erklären Sie sich das Resultat, wonach lesbische und bisexuelle Frauen im Vergleich zu heterosexuellen Frauen betreffend Alkohol ein grösseres risikohaftes gesundheitsschädliches Verhalten haben?

Aufgrund der wissenschaftlichen Methodik der Studie kann ich hier keine Aussage machen. Dies müsste man erforschen. Aus der Suchtforschung weiss man, dass verschiedene Motive und Hintergründe zu übermässigem und riskantem Konsum führen können. Substanzen können als dysfunktionale Bewältigungsstrategie zur «Bewältigung» von Belastungen genutzt werden oder auch, um sich gemeinschaftlich zugehörig zu fühlen oder «gender» – das soziale Geschlecht – mittels sozialer und gemeinschaftlicher Praktiken in Alltagssituationen darzustellen und zu festigen («doing gender with drugs»).

4. Wo sehen Sie schnell umsetzbare Massnahmen?

Schnell umsetzbar ist nicht gleich «gut» und «nachhaltig». Will man wirklich etwas verändern, braucht es umfassende Massnahmen in Politik und Gesellschaft, wie sie im Bericht beschrieben wurden, etwa konzertierte Massnahmen aller Politikbereiche, die die soziale und gesundheitliche Gleichstellung von LGBT-Personen stärken. Schnell umsetzbar und einfach wäre sicher, die bis dato vorwiegend ehrenamtlichen unterstützenden Leistungen zivilgesellschaftlicher Akteur:innen – wie etwa «Du-bist-Du», um nur eines zu nennen – staatlich aus- bzw. mindestens mitzufinanzieren, damit diese ihre Leistungen noch breiter und professionalisierter anbieten können und bestehende Angebotslücken schnell geschlossen werden können (z. B. spezialisierte Anlaufstellen bei suizidalen Krisen für LGBTQ+-Jugendliche).

5. LGBT-Personen – auch lesbische und queere Frauen – verzichten mehr als doppelt so oft auf Gesundheitsleistungen als die übrige Schweizer Wohnbevölkerung: Wo und wie kann das Vertrauen in Ärzteschaft, in Krankenhäuser usw. erhöht werden?

Meine Erfahrung ist, dass Vertrauen – oder auch Misstrauen – immer auch ein Ergebnis von gegenseitigen Interaktionen (zwischen Professionellen und Patient:innen), gemachten Erfahrungen mit Gesundheitspersonal, professionellen Kompetenzen des Personals, aber auch durch berechtigte oder manchmal auch weniger berechtigte Zuschreibungen beider Seiten entsteht. Dies gilt es zu bearbeiten. Und es geht nicht nur um die Ärzt:innen, sondern um alle Gesundheitsberufe! An der ZHAW bilden wir u.a. auch Pfleger:innen, Physiotherapeut:innen und Gesundheitsförder:innen aus. Auch diese müssen diversitätssensibel und diversitätsspezifisch professionell handeln können, auch gegenüber LGBTIQ+-Personen. In den nächsten Jahren braucht es breite Initiativen – und auch eine Finanzierung – die diese Ausbildungsteile qualifiziert sicherstellen. Auf der anderen Seite wird mit unserem Bericht sichtbar, dass die LGBTQ+-Community sehr divers ist, die Bedürfnisse auch hinsichtlich gesundheitlicher Versorgung verschieden sind, und es läuft auch einiges gut. So haben viele Personen in ihrer:ihrem Hausärzt:in eine Fachperson gefunden, die sie als LGBTQ+-sensibel und qualifiziert erachten.

6. Wo sind die Ansatzpunkte in der Schweiz, auf dem Hintergrund von internationalen Studien?

Massnahmen, die grundlegend das Umfeld verändern (Verhältnis-/Strukturorientierung) sind meist wirksamer als das blosse Antrainieren von Handlungskompetenzen (Verhaltensorientierung). Dies heisst etwa, dass Krankenhäuser und die ambulante Versorgung z. B. den Umgang mit trans und non-binären Personen – etwa Erfassung des Geschlechts in Formularen, Ansprache mit den richtigen Pronomen – systematisch in ihre Prozesse und ihr Qualitätssicherungssystem integrieren sollten; auch das professionelle Handeln des Fachpersonals muss diesbezüglich evaluiert und kontinuierlich weiterentwickelt werden (s. oben).

7. Welches könnte der Nutzen dieser Studie für die allgemeine Schweizer Gesundheitspolitik sein? Wie könnte diese davon profitieren?

Im Bericht ist z. B. mit dem «Health Equity Promotion Model» (HEP) ein Modell aufgeführt und beschrieben, in dem deutlich wird, wie Gesundheit von LGBTQ+-Personen zu Stande kommt. Die Politik kann mittels den empirischen Ergebnissen, die ins Modell eingeordnet wurden, nun klare Massnahmen treffen und sieht auch, dass die grössten Hebel in der Beeinflussung des Kontexts liegen, der rechtlichen und sozialen Gleichstellung von LGBTQ+-Menschen, dem Abbau von Diskriminierung, Stigmatisierung und Gewalt gegenüber diesen Personen.

8. Was sagen Sie zu «Resilienz» im Zusammenhang mit der Studie?

Auch aus anderen Studien ist bekannt, dass es protektive Faktoren gibt, Faktoren, die selbst unter belastenden Umständen ein Individuum davor schützen krank zu werden. Solche Faktoren sind etwa stützende soziale Netzwerke, eine hohe Selbstwirksamkeit und funktionale Bewältigungsstrategien. Oftmals besteht beim Resilienzdiskurs in der Wissenschaft wie der Praxis leider die Tendenz, die Verantwortung zu einseitig dem Individuum zuzuschreiben. Wir leben in einer optimierten und selbstoptimierenden Gesellschaft, in der nicht selten das Motto gilt: «Sei deines eigenen Glückes Schmied:in». Dies ist zynisch, auch wenn es um die Gesundheit von LGBTQ+-Personen geht. Die Ergebnisse nicht nur unseres Berichtes zeigen ja, dass die oftmals stärkeren gesundheitlichen Belastungen von LGBT-Personen massgeblich durch das Umfeld und die Gesellschaft zu erklären sind. Also gilt es auch, vordringlich dort anzusetzen. Was aber natürlich nicht heisst, dass wir nicht auch die Ressourcen von LGBTQ+-Menschen selbst stärken sollten.

9. Mal ganz ehrlich:
Was denken Sie zum Bundesrats-Rapport über die Studie?

Ich finde, der Bundesrat hat an vielen Stellen im bundesrätlichen Postulatsbericht klar Stellung bezogen und hat unseren Bericht und die Ergebnisse gut gelesen und verstanden. Jetzt gilt es, dies alles umzusetzen und die Umsetzung zu beobachten. Ich bin insgesamt zufrieden. Natürlich könnte man an einzelnen Stellen auch weiter gehen. Sehr kritisch sehe ich etwa, dass explizit im Bericht vermerkt wird, dass aufgrund eines Kürzungsbedarfs der Schweizerischen Gesundheitsbefragung (SGB) in der Erhebung 2027 die erstmals im Jahr 2022 eingeführten Fragen zur Geschlechtsidentität allenfalls nicht mehr gestellt werden können.

10. Studien sind ja in der Regel budgetbeschränkt. Was hätten Sie sich gewünscht, wenn mehr Geld zur Verfügung gestanden wäre?

Vorneweg: Für Paula Krüger (Hochschule Luzern) und mich als Co-Leitungen der Studie, und auch das ganze Forschungsteam, war es eine grosse Freude, diese Studie für das Bundesamt für Gesundheit (BAG) durchführen zu dürfen. Wenn mehr Geld und Zeit dagewesen wären, hätte man sicher die Untergruppen noch differenzierter auswerten können, z. B. noch mehr Auswertungen innerhalb der Gruppe der trans und non-binären Personen machen können. Jedoch stand der Vergleich der LGBT-Personen gegenüber der übrigen Bevölkerung im Fokus, was wir gut leisten konnten.

Prof. Dr. Andreas Pfister leitete zusammen mit Prof. Dr. Paula Krüger (Hochschule Luzern) die Studie “Gesundheit von LGBT-Personen in der Schweiz». Er ist Co-Institutsleiter des Instituts für Public Health der ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur.