Audre Lorde, black, lesbian, feminist, mother, poet, warrior, Lieblingslesbe und politische Visionärin, prägte 1982 in einer Rede an der Universität Harvard die Phrase «Revolution is not a one-time event». Sie richtete sich an die Schwarze Befreiungsbewegung und rief dazu auf, gemeinsam auf eine Veränderung der Verhältnisse hinzuarbeiten und Schwule und Lesben nicht länger auszugrenzen oder unsichtbar zu machen. Lorde sprach darüber, wie sie sich als Frau und Lesbe immer wieder rechtfertigen musste, nicht für ihre Positionen oder ihre Arbeit, sondern für ihre Identität.


Für mich bedeuten Audre Lordes Worte, z.B. auch für die Rechte von trans Menschen einzustehen und gegen Rassismus und die Unterdrückung Schwarzer Menschen und People of Color zu kämpfen. Veränderung, so Audre Lorde, liegt nämlich in unmittelbarer Verantwortung von uns allen. Unsere Möglichkeiten und die Orte, wo wir Veränderungen anstossen können, sind individuell und ganz unterschiedlich: Am Küchentisch, in der Kafipause, im Sportverein, auf dem Spielplatz, im Gemeinderat oder bei der Gewerkschaft. Mein persönlicher Lieblingsort dafür ist die Strasse. Auch wenn ich Menschenmassen eigentlich nicht so mag, ist das Gefühl, gemeinsam mit anderen auf die Strasse zu gehen und sichtbar zu machen, wer wir sind und wofür wir uns einsetzen, unvergleichlich. Lesbendemos, CSDs und Prides existieren in der Schweiz glücklicherweise schon seit den 70er-Jahren. Beim Frauenstreik von 1991, bei Frauendemos und bei feministischen Kundgebungen am 8. März waren Lesben und queere Menschen immer schon dabei. Und spätestens seit dem 14. Juni 2019 gehen viele jährlich auf die Strasse, um lesbische Existenz sichtbar zu machen, die eigene Identität zu feiern, gegen Diskriminierung einzustehen, ein schönes Leben für alle und mehr Rechte einzufordern.
Emanzipatorische Fortschritte müssen auch in der Schweiz (und international) immer wieder politisch errungen und verteidigt werden. So wurde das Frauenstimmrecht nur eingeführt, weil Frauen und solidarische Männer es wiederholt einforderten, in Parlamenten, auf der Strasse, am Generalstreik 1918, in den Kantonen und vor Gericht. Auch das Gleichstellungsgesetz wurde erst vier Jahre nach dem Frauenstreik von 1991 erlassen, obwohl Gleichstellung schon seit 1981 in der Verfassung stand.
Im Mai 1982 gingen Lesben in Genf «Gegen den Zwang zur Heterosexualität» auf die Strasse und 1986 forderten sie u.a. «Politisches Asyl für Lesben aller Nationen». Dank solchen Demos können wir heute darüber streiten, ob wir für oder gegen die Ehe sind, und uns, unabhängig von romantischer und sexueller Orientierung, unabhängig von Geschlechtsidentität, für oder gegen das Heiraten und die damit verbundenen Rechte entscheiden. Dank dieser und vielen anderen Demos und politischer Arbeit auf und neben den Strassen gibt es seit 2012 ausserdem endlich eine UNHCR-Richtlinie, die allen LGBTQIA+-Personen den Flüchtlingsstatus zuerkennen will, die in ihren Herkunftsländern kriminalisiert oder strafrechtlich verfolgt werden. Auch wenn die Schweiz diese Richtlinie (noch) nicht befolgt, sondern zusätzlich verlangt, dass die Geflüchteten spezifische Nachteile und eine ernsthafte Gefährdung nachweisen, zeigt sich: Sichtbarkeit politischer Forderungen auf der Strasse verhelfen diesen zur Durchsetzung.
Als Minderheit und Teil marginalisierter Gruppen ermöglichen es öffentliche Versammlungen, Kundgebungen und Umzüge, auf ganz unmittelbare Art in das Leben und den Alltag einer Mehrheitsgesellschaft einzutreten. So werden plötzlich Menschen, die sich bisher keine Gedanken machten über die Lebensbedingungen ausserhalb der Heteronormativität, beim Einkaufen oder Spazierengehen mit anderen Lebensentwürfen und Ungerechtigkeiten konfrontiert, die sie (vermeintlich) nicht betreffen. Gerade für Menschen, die nicht abstimmen dürfen, können Demonstrationen ein Ort sein, um gehört zu werden. Sich zusammenzufinden und ein gemeinsames Anliegen auf die Strasse zu tragen, den Raum mit der eigenen Präsenz zu einem öffentlichen, zu einem politischen zu machen und sichtbar zu werden, ist für eine demokratische Gesellschaft genauso notwendig wie parlamentarische Institutionen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und das Bundesgericht betonen deshalb regelmässig, dass die Meinungs- und Versammlungsfreiheit als Grundlage der Demokratie zu verstehen und entsprechend zu schützen sind.
Manchmal ist politischer Aktivismus allerdings auch frustrierend, weil es sich so anfühlen kann, als ob man zum 100. Mal für dieselbe Sache auf die Strasse geht und sich doch nichts oder aber jedenfalls zu wenig ändert. Mir hilft es, dann an Audre Lorde zu denken: Gesellschaftliche Transformation lässt sich nicht mit einer einzelnen Kundgebung erreichen, sondern bedingt eben kontinuierliches Bemühen: unser aller Weiterdemonstrieren, Weiterdenken, Weiterfeiern. Wir sehen uns – an einem CSD, einer Pride, einer Party, einer Sitzung oder anderswo.
Über die Autorin: Manuela Hugentobler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung der Universität Bern, forscht zu demokratischer Partizipation und Diskriminierung und geht gerne an Demos.
Erschienen in: LOS-Info 1/2025. Du möchtest ein gedrucktes Exemplar? Schreib eine Mail an info@los.ch.